- Das relative Risiko lässt kleine Effekte oft dramatisch erscheinen, während das absolute Risiko die tatsächliche Bedeutung eines Ergebnisses im realen Leben zeigt.
- Eine hohe prozentuale Risikosenkung (z.B. 50 %) ist bei einem sehr seltenen Ereignis oft nur eine winzige absolute Verbesserung.
- Frage immer nach den absoluten Zahlen: Wie viele Personen waren in der Studie und wie viele waren vom Ereignis betroffen?
- Die „Number Needed to Treat“ (NNT) ist eine der praktischsten Kennzahlen: Sie gibt an, wie viele Menschen behandelt werden müssen, um ein einziges negatives Ereignis zu verhindern.
- Um eine Gesundheitsinformation oder Studie wirklich zu bewerten, musst du neben den Risiken auch den Nutzen, die Nebenwirkungen, die Studiendauer und die untersuchte Personengruppe berücksichtigen.
Die Schlagzeile: Warum eine 50-prozentige Risikoreduktion nicht immer beeindruckend ist
Stell dir vor, du liest eine Nachricht: „Neues Medikament senkt Herzinfarktrisiko um 50 %!“ Das klingt fantastisch, fast wie ein medizinischer Durchbruch. Spontan würdest du wahrscheinlich annehmen, dass dieses Medikament extrem wirksam ist und dein persönliches Risiko halbiert. Doch solche Schlagzeilen sind oft mehr Verführung als Information. Sie nutzen einen statistischen Kniff, der zwar technisch korrekt ist, aber die wahre Bedeutung des Ergebnisses verschleiern kann. Diese beeindruckende Zahl von 50 % ist fast immer eine Angabe des relativen Risikos.
Das Problem dabei ist: Das relative Risiko allein sagt nichts darüber aus, wie groß die Gefahr ursprünglich war. Es stellt einen prozentualen Vergleich zwischen zwei Gruppen dar – meist einer Behandlungs- und einer Kontrollgruppe. Wenn das ursprüngliche Risiko jedoch verschwindend gering ist, kann selbst eine massive prozentuale Senkung in der Praxis kaum einen Unterschied machen. Es ist, als würde man den Preis für ein Produkt um 50 % reduzieren, das ursprünglich nur zwei Cent gekostet hat. Die Ersparnis ist prozentual riesig, aber absolut gesehen nur ein Cent. Um die Wirksamkeit einer Maßnahme wirklich beurteilen zu können, musst du tiefer blicken und die absoluten Zahlen verstehen. Dieser Artikel gibt dir das Werkzeug an die Hand, um hinter die Schlagzeilen zu schauen und informierte Entscheidungen für deine Gesundheit zu treffen.
Das Fundament: Was ist das absolute Risiko?
Um die Tricks der Statistik zu durchschauen, müssen wir beim Fundament beginnen: dem absoluten Risiko. Dieser Wert ist die ehrlichste und direkteste Art, eine Wahrscheinlichkeit auszudrücken. Er beschreibt, wie häufig ein bestimmtes Ereignis – zum Beispiel eine Erkrankung – in einer definierten Gruppe über einen bestimmten Zeitraum auftritt. Das absolute Risiko wird meist in Prozent oder als Verhältnis angegeben (z.B. „X von 1000 Personen“).
Machen wir es an einem einfachen Beispiel greifbar: Eine Studie beobachtet 1000 Menschen über zehn Jahre, die keine besondere Behandlung erhalten (die sogenannte Kontrollgruppe). In diesem Zeitraum erleiden 20 dieser Personen einen Herzinfarkt. Das absolute Risiko für einen Herzinfarkt in dieser Gruppe beträgt also 20 von 1000, was 2 % entspricht. Diese Zahl wird auch als Basisrisiko oder Grundrisiko bezeichnet. Sie gibt dir eine klare Vorstellung davon, wie wahrscheinlich das Ereignis ohne jegliche Intervention ist.
Das absolute Risiko ist deine Referenzgröße. Es erdet jede Diskussion und holt beeindruckende Prozentzahlen auf den Boden der Tatsachen zurück. Wenn du hörst, dass ein Risiko „hoch“ oder „niedrig“ ist, solltest du immer fragen: „Wie hoch oder niedrig ist es denn in absoluten Zahlen?“ Eine Angabe von 2 % ist greifbar und verständlich. Sie erlaubt dir, die Relevanz für dein eigenes Leben einzuschätzen. Ohne das absolute Risiko zu kennen, schweben alle weiteren Informationen im luftleeren Raum und sind praktisch wertlos für eine fundierte Entscheidung.
Die Verführung: Das relative Risiko verstehen und entlarven
Nachdem wir das ehrliche Fundament des absoluten Risikos kennen, kommen wir nun zur verführerischen Schlagzeile: dem relativen Risiko. Das relative Risiko vergleicht das absolute Risiko in der Behandlungsgruppe mit dem absoluten Risiko in der Kontrollgruppe. Es sagt aus, um wie viel Prozent das Risiko in der einen Gruppe höher oder niedriger ist als in der anderen. Hier entstehen die beeindruckenden Zahlen, die uns in den Medien so oft begegnen.
Bleiben wir bei unserem Beispiel: Das Basisrisiko für einen Herzinfarkt lag in der Kontrollgruppe bei 2 % (20 von 1000 Personen). Nun wird in einer zweiten Gruppe von 1000 Personen ein neues Medikament getestet. In dieser Behandlungsgruppe erleiden nur noch 10 Personen einen Herzinfarkt. Das absolute Risiko in der Behandlungsgruppe sinkt also auf 1 % (10 von 1000). Wie berechnet sich daraus nun das relative Risiko?
Die Berechnung der relativen Risikoreduktion
Die relative Risikoreduktion (RRR) wird wie folgt berechnet: Man nimmt die Differenz der absoluten Risiken (2 % – 1 % = 1 %) und teilt diese durch das ursprüngliche Risiko der Kontrollgruppe (2 %). Das Ergebnis ist 1 % / 2 % = 0,5. In Prozent ausgedrückt sind das 50 %. Technisch ist die Schlagzeile „Medikament senkt Herzinfarktrisiko um 50 %“ also korrekt. Sie verschweigt aber, dass diese 50-prozentige Reduktion in Wirklichkeit bedeutet, dass das Risiko von 2 % auf 1 % gesunken ist. Die Verführung liegt darin, dass das relative Risiko die Wirkung einer Maßnahme umso größer erscheinen lässt, je kleiner das ursprüngliche Basisrisiko ist. Es ist ein mächtiges Werkzeug, um Aufmerksamkeit zu erregen, aber ein schlechter Ratgeber für persönliche Gesundheitsentscheidungen.
Der entscheidende Unterschied: Eine Gegenüberstellung am praktischen Beispiel
Der beste Weg, den Unterschied zwischen absolutem und relativem Risiko zu verinnerlichen, ist eine direkte Gegenüberstellung. Schauen wir uns die Daten aus unserem fiktiven Medikamenten-Beispiel noch einmal an, aber diesmal strukturiert in einer Tabelle. So werden die Zusammenhänge und die wahre Bedeutung der Zahlen sofort klar.
In dieser Tabelle führen wir eine weitere wichtige Kennzahl ein: die absolute Risikoreduktion (ARR). Sie ist einfach die Differenz zwischen dem Risiko in der Kontrollgruppe und dem Risiko in der Behandlungsgruppe. Sie sagt dir, um wie viele Prozentpunkte das Risiko tatsächlich sinkt. Im Gegensatz zur relativen Risikoreduktion ist die ARR eine viel nüchternere und ehrlichere Angabe des tatsächlichen Nutzens.
Kennzahl | Kontrollgruppe (Placebo) | Behandlungsgruppe (Medikament) | Erläuterung |
---|---|---|---|
Teilnehmerzahl | 1000 | 1000 | Die Größe der untersuchten Gruppen. |
Anzahl der Herzinfarkte | 20 | 10 | Die tatsächliche Anzahl der aufgetretenen Ereignisse. |
Absolutes Risiko | 20 von 1000 = 2 % | 10 von 1000 = 1 % | Die reale Wahrscheinlichkeit eines Herzinfarkts in jeder Gruppe. |
Absolute Risikoreduktion (ARR) | 2 % – 1 % = 1 Prozentpunkt | Der tatsächliche, absolute Nutzen des Medikaments. | |
Relative Risikoreduktion (RRR) | (2 % – 1 %) / 2 % = 50 % | Der prozentuale Vergleich, der in Schlagzeilen verwendet wird. |
Die Tabelle zeigt deutlich: Während die relative Risikoreduktion mit 50 % einen riesigen Effekt suggeriert, zeigt die absolute Risikoreduktion, dass der Nutzen bei einem Prozentpunkt liegt. Das heißt, von 100 Personen, die das Medikament nehmen, profitiert im Durchschnitt eine einzige Person, die dadurch einen Herzinfarkt vermeidet. Die anderen 99 nehmen das Medikament ohne diesen spezifischen Nutzen – möglicherweise aber mit Nebenwirkungen. Diese Perspektive ist entscheidend für eine abgewogene Entscheidung.
Die „Number Needed to Treat“ (NNT): Die wichtigste Zahl für deine Entscheidung
Wenn es eine einzige Kennzahl gibt, die du aus diesem Artikel mitnehmen solltest, dann ist es die „Number Needed to Treat“ (NNT). Dieser Wert ist unglaublich praktisch und intuitiv, denn er übersetzt die abstrakten Prozentzahlen in eine greifbare, menschliche Dimension. Die NNT beantwortet eine sehr einfache Frage: Wie viele Personen müssen mit einer bestimmten Therapie (z. B. einem Medikament) über einen definierten Zeitraum behandelt werden, um ein einziges zusätzliches negatives Ereignis (z. B. einen Herzinfarkt) zu verhindern?
Die Berechnung ist erstaunlich einfach, sobald du die absolute Risikoreduktion (ARR) kennst. Die Formel lautet: NNT = 1 / ARR. Wichtig ist, dass du die ARR als Dezimalzahl einsetzt (z. B. 1 % wird zu 0,01).
Die NNT in unserem Beispiel
In unserem Medikamenten-Beispiel betrug die absolute Risikoreduktion (ARR) einen Prozentpunkt, also 0,01. Setzen wir diesen Wert in die Formel ein:
NNT = 1 / 0,01 = 100.
Die Interpretation dieser Zahl ist ein Augenöffner: Man muss 100 Personen über den Studienzeitraum von zehn Jahren mit dem neuen Medikament behandeln, um einen einzigen Herzinfarkt zu verhindern. Die anderen 99 Personen haben von dieser spezifischen Wirkung nicht profitiert, obwohl sie das Medikament eingenommen haben. Plötzlich klingt die „50 % Risikoreduktion“ ganz anders, oder? Die NNT zwingt uns, den Nutzen ins Verhältnis zum Aufwand (Kosten, Einnahme-Disziplin) und zu den potenziellen Risiken (Nebenwirkungen) zu setzen. Eine NNT von 100 ist moderat. Eine NNT von 500 wäre schon deutlich weniger beeindruckend, während eine NNT von 10 einen sehr hohen Nutzen darstellt. Die NNT ist somit das beste Werkzeug für ein realistisches Gespräch mit deinem Arzt über den potenziellen Nutzen einer Behandlung.
Vorsicht Falle! Wo relative Risiken lauern und wie du sie erkennst
Die verzerrende Darstellung durch relative Risiken ist kein Zufall, sondern oft eine bewusste Strategie, um Produkte oder Studienergebnisse möglichst positiv darzustellen. Wenn du weißt, wo diese Fallen lauern, kannst du sie leichter umgehen. Besonders wachsam solltest du in den folgenden Bereichen sein:
- Medien und Nachrichten: Journalisten suchen nach starken Schlagzeilen. Eine „50-prozentige Reduktion“ verkauft sich besser als eine „Reduktion um einen Prozentpunkt“. Gesundheitsnachrichten in Zeitungen, Online-Portalen oder im Fernsehen greifen fast immer auf relative Risiken zurück.
- Werbung von Pharmaunternehmen: Wenn für ein rezeptfreies Medikament oder ein Nahrungsergänzungsmittel geworben wird, werden die Vorteile oft in der bestmöglichen, also relativen, Form präsentiert.
- Zusammenfassungen von Studien (Abstracts): Selbst in wissenschaftlichen Publikationen wird in der Kurzzusammenfassung (Abstract) oft die relative Risikoreduktion prominent platziert, um die Relevanz der eigenen Forschung zu unterstreichen. Die absoluten Zahlen finden sich meist erst im Detailteil der Studie.
Dein Spürsinn für statistische Tricks
Um nicht in die Falle zu tappen, kannst du dir eine mentale Checkliste zurechtlegen. Immer wenn du auf eine prozentuale Angabe zu einem Risiko stößt, stelle dir die folgenden Fragen:
- Wird hier ein relatives oder ein absolutes Risiko genannt? Jede Angabe ohne den Bezug zur Ausgangsbasis ist verdächtig.
- Wie hoch war das Risiko in der Kontrollgruppe? Suche nach dem Basisrisiko. Ohne diese Zahl ist der prozentuale Rückgang bedeutungslos.
- Wie lauten die absoluten Zahlen? Frage dich: Wie viele Menschen wurden untersucht und bei wie vielen trat das Ereignis tatsächlich auf (z. B. 20 von 1000)?
- Über welchen Zeitraum lief die Studie? Ein Nutzen über 10 Jahre ist anders zu bewerten als einer über 6 Monate.
Mit diesen Fragen im Hinterkopf entwickelst du einen kritischen Blick und wirst vom passiven Konsumenten von Gesundheitsinformationen zu einem aktiven und mündigen Bewerter. Du lässt dich nicht mehr von großen Zahlen blenden, sondern suchst gezielt nach dem wahren Kern der Information.
Nicht nur Risiken, sondern auch Chancen: Der relative Nutzen
Das Prinzip der relativen versus absoluten Darstellung beschränkt sich nicht nur auf negative Ereignisse wie Krankheiten oder Nebenwirkungen. Genau die gleiche Logik und die gleichen statistischen Fallstricke finden sich auch bei der Beschreibung von positivem Nutzen oder Chancen. Hier wird die relative Darstellung genutzt, um einen Vorteil größer erscheinen zu lassen, als er in Wirklichkeit ist. Man spricht dann vom relativen Nutzen (Relative Benefit Increase, RBI).
Stellen wir uns eine Studie zu einer neuen Lernmethode vor. Die Schlagzeile lautet: „Neue Lernmethode verdoppelt die Erfolgsquote im Examen – eine Steigerung um 100 %!“ Auch das klingt zunächst revolutionär. Doch schauen wir uns die absoluten Zahlen an.
In der Kontrollgruppe, die mit der alten Methode gelernt hat, haben 4 von 100 Studierenden das Examen bestanden. Die absolute Erfolgsquote liegt also bei 4 %.
In der Gruppe mit der neuen Lernmethode bestehen 8 von 100 Studierenden. Die absolute Erfolgsquote liegt hier bei 8 %.
Die Berechnung des relativen Nutzens
Der absolute Nutzenzuwachs beträgt 4 Prozentpunkte (8 % – 4 %). Der relative Nutzen wird berechnet, indem man diesen absoluten Zuwachs durch die ursprüngliche Erfolgsquote teilt: (8 % – 4 %) / 4 % = 1. Das entspricht einer relativen Steigerung von 100 %. Die Erfolgsquote hat sich also tatsächlich verdoppelt. Aber die absolute Realität ist, dass auch mit der neuen Methode immer noch 92 von 100 Studierenden durchfallen. Die Verdopplung eines ursprünglich sehr kleinen Nutzens führt also immer noch zu einem bescheidenen Gesamtergebnis. Dieses Prinzip ist universell anwendbar, sei es bei der Steigerung von Heilungschancen, der Verbesserung von sportlicher Leistung oder dem Erfolg von Marketingkampagnen. Sei also auch bei positiven Nachrichten wachsam und frage immer nach der absoluten Basis.
Der Kontext ist König: Warum Studiendetails so wichtig sind
Selbst wenn du das absolute und relative Risiko perfekt unterscheiden und die NNT berechnen kannst, ist das nur die halbe Miete. Zahlen existieren nie im luftleeren Raum. Um ihre wahre Bedeutung für dich persönlich zu erfassen, musst du den Kontext der Studie verstehen. Eine statistisch korrekte Zahl kann für dich völlig irrelevant sein, wenn die Rahmenbedingungen der Studie nicht zu deiner Lebenssituation passen. Der Kontext ist der König, der über die Relevanz der Zahlen entscheidet.
Die Studiendauer
Ein Nutzen, der über einen Zeitraum von zehn Jahren gemessen wurde, ist nicht direkt mit einem vergleichbar, der sich auf ein Jahr bezieht. Eine NNT von 100 über zehn Jahre bedeutet, dass 100 Menschen zehn Jahre lang behandelt werden müssen, um ein Ereignis zu verhindern. Das sind insgesamt 1000 Behandlungsjahre. Das ist ein erheblicher Aufwand. Achte also immer darauf, für welchen Zeitraum die angegebenen Risiken und Nutzen gelten.
Die Zielgruppe (Studienpopulation)
Das ist vielleicht der wichtigste Punkt: Wer wurde in der Studie untersucht? Die Ergebnisse einer Studie gelten streng genommen nur für eine Personengruppe, die den Studienteilnehmern sehr ähnlich ist. Wurde ein Medikament an 75-jährigen Männern mit hohem Blutdruck getestet? Dann sind die Ergebnisse nicht ohne Weiteres auf eine 30-jährige gesunde Frau übertragbar. Ihr persönliches Basisrisiko ist viel niedriger, und der absolute Nutzen der Behandlung wäre für sie wahrscheinlich verschwindend gering. Frage dich immer: Passe ich in die Zielgruppe der Studie (Alter, Geschlecht, Vorerkrankungen, Lebensstil)?
Die Nebenwirkungen (Number Needed to Harm)
Jede wirksame Behandlung hat potenziell auch Nebenwirkungen. Das Gegenstück zur „Number Needed to Treat“ ist die „Number Needed to Harm“ (NNH). Sie gibt an, wie viele Personen behandelt werden müssen, damit eine Person eine bestimmte Nebenwirkung erleidet. Eine vernünftige Entscheidung erfordert immer das Abwägen von NNT und NNH. Wenn die NNT bei 100 liegt (100 Behandelte für einen verhinderten Herzinfarkt), die NNH für eine schwere Nebenwirkung aber bei 50 (einer von 50 Behandelten erleidet einen Schaden), dann ist das Nutzen-Schaden-Verhältnis negativ. Die Information über Nebenwirkungen ist genauso wichtig wie die über den Nutzen.
Dein Werkzeugkasten für den Alltag: Eine Schritt-für-Schritt-Anleitung
Du hast nun das nötige Wissen, um Gesundheitsinformationen und Studien kritisch zu hinterfragen. Um dieses Wissen im Alltag anzuwenden, brauchst du einen klaren, einfachen Plan. Betrachte die folgenden Schritte als deinen persönlichen Werkzeugkasten, den du immer dann herausholen kannst, wenn du auf eine neue gesundheitsbezogene Behauptung triffst – sei es in den Nachrichten, in der Werbung oder im Gespräch mit deinem Arzt.
Schritt 1: Die Schlagzeile ignorieren
Der erste und wichtigste Schritt ist, die reißerische Überschrift mental auszublenden. Sie ist darauf ausgelegt, deine Aufmerksamkeit zu erregen, nicht, dich umfassend zu informieren. Atme tief durch und entscheide dich bewusst, nach den Fakten zu suchen.
Schritt 2: Nach den absoluten Zahlen suchen
Konzentriere dich auf die Suche nach den Kerninformationen. Du brauchst die Daten für die Kontrollgruppe (Placebo oder Standardbehandlung) und die Behandlungsgruppe. Finde heraus: Wie hoch war das Basisrisiko? Also: Wie viele von wie vielen Personen waren in der Kontrollgruppe betroffen?
Schritt 3: Die absolute Risikoreduktion (ARR) ermitteln
Berechne oder suche die absolute Risikoreduktion. Sie ist die einfache Differenz zwischen den Risikoraten der beiden Gruppen. Diese Zahl in Prozentpunkten ist der erste ehrliche Indikator für den tatsächlichen Nutzen.
Schritt 4: Die „Number Needed to Treat“ (NNT) berechnen
Übersetze die ARR in die greifbare NNT, indem du die Formel 1 / ARR anwendest. Das Ergebnis gibt dir die menschliche Dimension des Nutzens: Wie viele Menschen wie du und ich müssen behandelt werden, damit eine einzige Person profitiert?
Schritt 5: Nutzen und Schaden im Kontext abwägen
Setze die NNT ins Verhältnis zu den Kosten, dem Aufwand und vor allem den potenziellen Nebenwirkungen (NNH). Berücksichtige den Studienzeitraum und frage dich, ob du der Zielgruppe der Studie entsprichst. Erst diese ganzheitliche Betrachtung ermöglicht eine wirklich informierte und persönliche Entscheidung.
Mit diesem Vorgehen verwandelst du dich von einem passiven Empfänger von Informationen in einen aktiven, kritischen und selbstbestimmten Gestalter deiner Gesundheit.